Medienwissenschaftlerin Theresa Züger über die Legitimität zivilen Ungehorsams, die Rolle des Internets und demokratische Fähigkeiten.
Sitzblockaden, Schulstreiks, Besetzungen: AktivistInnen der Klimabewegung übertreten offen und bewusst Gesetze, um für ihre Anliegen Gehör zu finden. Wann ist für Sie ziviler Ungehorsam eine legitime Intervention?
Für politische TheoretikerInnen, die wie Hannah Arendt im zivilen Ungehorsam ein besonderes demokratisches Potenzial sehen, ist ziviler Ungehorsam an sich eine legitime Form politischen Handelns. Diese allgemeine Legitimation bedeutet jedoch nicht, dass jede Form des zivilen Ungehorsams in jeder beliebigen Protestsituation auch gerechtfertigt ist. Meist wurde in der Geschichte erst in Retrospektive allgemein anerkannt, dass etwas ziviler Ungehorsam war – wie die Proteste der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung von Martin Luther King Jr. Zu seiner Zeit wurde er als gefährlicher Verbrecher unter Beobachtung gestellt und vom Geheimdienst beschattet und bedroht. Erst im Rückblick verstehen wir seine Proteste als mutige und beispielhafte Akte zivilen Ungehorsams.
Theresa Züger forscht am Alexander von Humboldt-Institut für Internet und Gesellschaft in Berlin, kurz HIIG. In ihrer Doktorarbeit, die sie 2017 im Fachbereich Medienwissenschaft verfasste, beschäftigte sie sich mit digitalen Formen zivilen Ungehorsams.
Welche Rolle spielen digitale Medien in der Praxis des zivilen Ungehorsams?
Für die Klimaproteste spielen sie sicher eine wichtige Rolle, da sie helfen, Proteste weltweit zu koordinieren, Protestierende zu vernetzen und die Organisationskosten gering zu halten. Für zivilen Ungehorsam allgemein ist das sehr unterschiedlich, da die Handlungen, die den zivilen Ungehorsam umsetzen, sehr verschieden sein können. In meiner Forschung habe ich mich besonders mit Formen zivilen Ungehorsams auseinandergesetzt, in denen digitales Handeln zentral ist. Genauso gibt es aber Fälle wie die Besetzung des Hambacher Forsts, für die es zentral ist, dass Menschen physisch vor Ort sind. Aber: Die digitale Berichterstattung der zivil Ungehorsamen vor Ort bringt eine wichtige Veränderung mit sich. Sie erlaubt nämlich,s den Sichtweisen und Geschichten der Protestierenden Gehör zu verschaffen – egal ob die Massenmedien sie senden oder nicht. Dass wir Carola Rackete vor ihrem Anlegemanöver im Hafen von Lampedusa in sozialen Medien sehen und hören konnten, macht für die Unterstützung ihres mutigen Aktes zivilen Ungehorsams einen wichtigen Unterschied.
Inwiefern kann ziviler Ungehorsam eine Demokratie stärken?
Wir müssen uns zuvor die Frage stellen, was wir unter Demokratie verstehen. Wenn es in einer Demokratie allein darum geht, dass Bürger und Bürgerinnen wählen und dafür absoluten Gehorsam zu Gesetzen zu leisten haben, dann scheint ziviler Ungehorsam natürlich einen grundlegenden Widerspruch herzustellen.
Denken wir aber, dass Menschen in einer Demokratie weit mehr Rechte haben als ihr Wahlrecht: dass sie selbst Mitspracherecht haben, wie die Gesetze und die Politik aussehen sollten, denen sie folgen; dass sie das Recht haben, Widerstand zu leisten, sofern gravierende Ungerechtigkeiten oder Missstände ihr Leben oder das Leben anderer betreffen etc., dann ist ziviler Ungehorsam eine wichtige – wenn auch außerordentliche – Form, diesen Protest in Situationen auszudrücken, in denen anderen Mittel keine oder keine ausreichende Wirkung zeigen.
KritikerInnen des zivilen Ungehorsams pochen auf die Einhaltung der Gesetze. Was entgegnen Sie?
Wer allein auf die strikte Einhaltung pocht, den darf man an die historische Realität massiver Unrechtsherrschaften erinnern. Dort wurden und werden im Einklang mit dem jeweils geltenden Recht unsägliche Verbrechen an der Menschheit begangen. Gesetze sind von Menschen gemacht und immer auch abhängig von den Sitten und Werten einer Gesellschaft und einer Zeit. Gesetze sind fehlbar und es wäre gefährlich davon auszugehen, man könne je einen perfekten Korpus an Gesetzen erreichen, der für alle Zeit und jede Lage gilt. Im Gegenteil ist es eine wichtige Fähigkeit einer Demokratie, auch bestehende Gesetze und Regeln im Zweifelsfall in Frage zu stellen.
Interview: Christine Tragler
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